18. Türchen
für die Zeit nach Weihnachten
Die Christbaumkugel
Nun haben wir August: Weihnachten ist schon eine Weile her.
Auf der Kommode im Flur liegt immer noch eine riesige lilafarbene Christbaumkugel. Paola hatte sie
zur Weihnachtszeit über dem Spiegel im Flur aufgehängt, das sah sehr schön aus und war ziemlich
praktisch. Der Spiegel ist gleich gegenüber der Wohnungstür, und wenn man vor Weihnachten
hereinkam, sah man als erstes diese riesige Christbaumkugel und wusste sofort: Aha, jetzt ist also
Weihnachtszeit. Nur falls man es vergessen hatte.
Nach Weihnachten wurde die Kugel abgehängt und fürs Erste auf die Kommode gelegt, damit sie in
den Keller gebracht werden konnte. Aber sie ist immer noch dort. Und es ist keine Weihnachtszeit,
beim besten Willen nicht.
„Man müsste die Christbaumkugel in den Keller bringen“, sagt Paola ab und zu.
„Jemand könnte mal die Christbaumkugel hier weg tun, in den Keller vielleicht“, sage ich dann und
wann.
Manchmal kommt es mir so vor, als ob in unserer Wohnung noch drei andere Personen lebten, außer
Paola, Luis, mir und Bosch, meinem sehr alten Kühlschrank und Freund. Diese drei anderen Personen
sind: Herr Man, Frau Jemand und Fräulein Einer. Um die Wahrheit über diese drei zu sagen: Sie sind
stinkfaul. Sie beteiligen sich an keiner Weise am Gemeinschaftsleben. Sie tun überhaupt nichts.
Ich sage: “Man müsste mal die Blumen auf dem Balkon gießen.“ Aber Man tut es nicht.
Paola sagt: „Jemand müsste mal deinen Tennisschläger beiseite räumen.“ Aber Jemand ist nirgendwo
in Sicht.
Ich sage:“ Einer müsste unbedingt das Altglas wegbringen.“ Aber das Altglas bleibt da, nichts zu
sehen von Einer.
Der Fall der Christbaumkugel ist besonders schwierig. Es war, glaube ich, Anfang März, Als Paola
ihretwegen einen Wutanfall bekam. Sie schrie, diese Christbaumkugel müsse hier endlich
weggeräumt werden, wenn sie nicht bald weggeräumt werde, dann werde sie das Ding aus dem
Fenster werfen, sie könne es nicht mehr sehen.
Man beachte nun hier die Formel „muss hier endlich weggeräumt werden“. Es handelt sich um das
sogenannte Partnerschafts-Passiv, eine in Beziehungen sehr alltäglichen Art zu sprechen, wenn es um
Dinge geht, die unbedingt getan werden müssen, die man selbst aber um keinen Preis der Welt tun
möchte. Es gibt ja so gewisse Dinge, die man einfach überhaupt nicht gerne tut, bei jedem ist es
etwas anderes: Ich persönlich hasse das Bohren von Löchern (zum Bildaufhängen oder
Regalbefestigen) wie nichts auf der Welt. Paola verachtet das Blumengießen, als wäre es der
Abschaum unter den Tätigkeiten. Wenn nun Löcher gebohrt oder Blumen gegossen werden müssen,
man selbst es aber einerseits nicht tun möchte, andererseits aber aus internen Gründen nicht direkt
den Partnerdazu auffordern will „Kannst du nicht hier endlich…?!“
Mit der Christbaumkugel war es nun so, dass sich eines Tages mehrere Gegenstände angesammelt
hatten, die in den Keller gebracht werden mussten, darunter eine Reisetasche. Ich packe ungefähr im April
in einem Anfall von Entschlusskraft alles in die Reisetasche, trug sie in den Keller und stellte die
Tasche dort ab, samt Kugel.
Ein paar Wochen später musste Paola über das Wochenende verreisen. Sie holte sich aus dem Keller
die Reisetasche und bemerkte erst in der Wohnung, dass die Christbaumkugel noch drin war.
„Die Reisetasche hätte im Keller ausgepackt werden müssen“, sagte Paola und legte die
Christbaumkugel wieder auf die Kommode im Flur, wo sie sich, wie gesagt, immer noch befindet.
Wir haben nun schon August. Eigentlich lohnt es sich gar nicht mehr, die Kugel noch in den Keller zu
bringen. Für die paar Monate. Weihnachten müsste sie ja doch nur wieder nach oben gebracht
werden.
Oder Jemand müsste sie holen. Oder Einer. Oder Man.
(Axel Hacke)